Architektur der Sommerfrische: Unterschied zwischen den Versionen

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Um die Jahrhundertwende beauftragten viele jüdische Bauherren bedeutende Architekten aus Prag, Wien und München. Den Beginn machte 1901 der Siebenbürgener Architekt und Maler Hermann Giesel, 1904 baute Albert Hans Pecha für Anna Blaschczik, die Schwester des Generaldirektors der Prager Eisenindustrie-Gesellschaft Wilhelm Kestranek, eine Villa um. 1905 errichtete der örtliche Baumeister Hans Brandl für den Prager Großindustriellen und Direktor der Poldi-Hütte Karl Nebrich eine Villa. Der Prager Jurist Ferdinand Tonder beauftragte 1906 den Mitbegründer der tschechischen Moderne und Otto-Wagner-Schüler Jan Kotěra mit seiner Villa am See. Im gleichen Jahr errichtete Otakar Novotný für den Direktor der Zuckerfabrikenversicherung Moriz Riemer eine Villa; zugehörig ist ein Bootshaus von Heinrich Fanta (1931) samt Holzboot H. v. →Hofmannsthals. 1908 folgt die für Wilhelm Kestranek (ein Geschäftspartner von Nebrich) vom Münchner Architekten Emanuel v. Seidl geplante Jugendstil-Villenanlage (im Nationalsozialismus enteignet und durch Hermann Göring genutzt, seit 1956 im Besitz des Vereins Rettet das Kind). Den riesigen Landsitz des Wiener Bankiers Max Feilchenfeld (seit 1949 Hotel Billroth) plante Albert. H. Pecha 1909. 1912 folgte die Neue König-Villa von Eugène und Gabriele Koenig, 1929 schloss der Promenaden-Pavillon (Abbruch 1980er) mit einem Papageno von Michael Powolný die Baureihe ab. Mit singulärer Stellung in der S. St. Gilgens: der 1911 durch Franz Schönthaler errichtete Ferienhort, welcher der Sommererholung für Wiener Schulkinder ohne finanzielle Mittel diente. Antijüdische Maßnahmen begannen in St. Gilgen früh, sie gingen von Sport- und Tourismusvereinen aus (1901 Verwehrung der Mitgliedschaft beim Union-Yacht-Club); 1938 und 1939 folgten Arisierungen. Einige der Villen sind heute verändert oder abgebrochen. Gut erhalten sind die Villen des Wiener Fabriksdirektors George Schinteliffe-Blakey (1906, 1924 Aufstockung für den Wiener Bankdirektor Otto Deutsch durch den Prager Architekten Viktor Kafka), die Villa Dr. Schaser (1912, Eduard Pölz) und Villa Wallace (1914, Hans Brandl).
 
Um die Jahrhundertwende beauftragten viele jüdische Bauherren bedeutende Architekten aus Prag, Wien und München. Den Beginn machte 1901 der Siebenbürgener Architekt und Maler Hermann Giesel, 1904 baute Albert Hans Pecha für Anna Blaschczik, die Schwester des Generaldirektors der Prager Eisenindustrie-Gesellschaft Wilhelm Kestranek, eine Villa um. 1905 errichtete der örtliche Baumeister Hans Brandl für den Prager Großindustriellen und Direktor der Poldi-Hütte Karl Nebrich eine Villa. Der Prager Jurist Ferdinand Tonder beauftragte 1906 den Mitbegründer der tschechischen Moderne und Otto-Wagner-Schüler Jan Kotěra mit seiner Villa am See. Im gleichen Jahr errichtete Otakar Novotný für den Direktor der Zuckerfabrikenversicherung Moriz Riemer eine Villa; zugehörig ist ein Bootshaus von Heinrich Fanta (1931) samt Holzboot H. v. →Hofmannsthals. 1908 folgt die für Wilhelm Kestranek (ein Geschäftspartner von Nebrich) vom Münchner Architekten Emanuel v. Seidl geplante Jugendstil-Villenanlage (im Nationalsozialismus enteignet und durch Hermann Göring genutzt, seit 1956 im Besitz des Vereins Rettet das Kind). Den riesigen Landsitz des Wiener Bankiers Max Feilchenfeld (seit 1949 Hotel Billroth) plante Albert. H. Pecha 1909. 1912 folgte die Neue König-Villa von Eugène und Gabriele Koenig, 1929 schloss der Promenaden-Pavillon (Abbruch 1980er) mit einem Papageno von Michael Powolný die Baureihe ab. Mit singulärer Stellung in der S. St. Gilgens: der 1911 durch Franz Schönthaler errichtete Ferienhort, welcher der Sommererholung für Wiener Schulkinder ohne finanzielle Mittel diente. Antijüdische Maßnahmen begannen in St. Gilgen früh, sie gingen von Sport- und Tourismusvereinen aus (1901 Verwehrung der Mitgliedschaft beim Union-Yacht-Club); 1938 und 1939 folgten Arisierungen. Einige der Villen sind heute verändert oder abgebrochen. Gut erhalten sind die Villen des Wiener Fabriksdirektors George Schinteliffe-Blakey (1906, 1924 Aufstockung für den Wiener Bankdirektor Otto Deutsch durch den Prager Architekten Viktor Kafka), die Villa Dr. Schaser (1912, Eduard Pölz) und Villa Wallace (1914, Hans Brandl).
 
   
 
   
Im 1898 durch die Lokalbahn erschlossenen Pinzgau entwickelte sich nur in Thumersbach am Zeller See eine Sommerfrische: Landhaus für den Wiener Landgerichtsrat Dr. von Brücke und dessen Frau Emilie Wittgenstein (1900, E. v. Seidl), nachdem bereits die ältere Schwester Clara Wittgenstein hier ein Landhaus gebaut hatte. Unken und Lofer konnten zwar Gäste aus verschiedenen Zentren der Habsburgermonarchie anziehen, bemerkenswerte Villen fehlen allerdings. Ähnliches gilt für das 1875 an das Bahnnetz angeschlossene Golling. Saalfelden verblieb zwar vorwiegend Touristenstation, L. →Ehrenberger baute hier aber 1904 ein Atelier und 1906 eine Jugendstilvilla nach eigenem Entwurf. Bad Gastein ist als traditioneller Kurort eigentlich nicht der S. zuzuordnen; Sigmund Freud verbrachte hier dennoch 1916–23 jeden Sommer in der Villa Dr. Wassing (1895–97, J. →Wessiken). Ausnahmen waren die Voralpen-Seen, denen die Einbettung ins Hochgebirge fehlte (Henndorfer Seehaus von Oskar Lainer). Für Künstler wie Gustav Klimt, der 1899 einige Wochen in Golling verbrachte, oder den Philosophen Ludwig Wittgenstein, war die S. keine Zeit der Untätigkeit, sondern der Prodiktivität. Wittgenstein arbeitete in der Villa seines Onkels, des Wiener Industriellen Paul Wittgenstein in Oberalm (errichtet 1874, abgebrochen 2015) am #Tractatus logico-philosophicus#, den er hier im Sommer 1918 vollendete.
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Im 1898 durch die Lokalbahn erschlossenen Pinzgau entwickelte sich nur in Thumersbach am Zeller See eine Sommerfrische: Landhaus für den Wiener Landgerichtsrat Dr. von Brücke und dessen Frau Emilie Wittgenstein (1900, E. v. Seidl), nachdem bereits die ältere Schwester Clara Wittgenstein hier ein Landhaus gebaut hatte. Unken und Lofer konnten zwar Gäste aus verschiedenen Zentren der Habsburgermonarchie anziehen, bemerkenswerte Villen fehlen allerdings. Ähnliches gilt für das 1875 an das Bahnnetz angeschlossene Golling. Saalfelden verblieb zwar vorwiegend Touristenstation, L. →Ehrenberger baute hier aber 1904 ein Atelier und 1906 eine Jugendstilvilla nach eigenem Entwurf. Bad Gastein ist als traditioneller Kurort eigentlich nicht der S. zuzuordnen; Sigmund Freud verbrachte hier dennoch 1916–23 jeden Sommer in der Villa Dr. Wassing (1895–97, J. →Wessicken). Ausnahmen waren die Voralpen-Seen, denen die Einbettung ins Hochgebirge fehlte (Henndorfer Seehaus von Oskar Lainer). Für Künstler wie Gustav Klimt, der 1899 einige Wochen in Golling verbrachte, oder den Philosophen Ludwig Wittgenstein, war die S. keine Zeit der Untätigkeit, sondern der Prodiktivität. Wittgenstein arbeitete in der Villa seines Onkels, des Wiener Industriellen Paul Wittgenstein in Oberalm (errichtet 1874, abgebrochen 2015) am #Tractatus logico-philosophicus#, den er hier im Sommer 1918 vollendete.
  
 
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Version vom 23. Oktober 2018, 13:55 Uhr

Architektur der Sommerfrische

Die S. kopierte den Lebensstil des Adels, der sich im Sommer auf seine Landschlösser zurückzog. Dem „Goldenen Zeitalter“ der S., das vom Großbügertum getragen wurde, setzte der Erste Weltkrieg ein jähes Ende; während der Zwischenkriegszeit, im kurzen „Silbernen Zeitalter“ der S. (Haas), waren es hingegen die mittleren und unteren Schichten des Bürgertums, die die Kultur der S. bestimmten. Voraussetzung für die S. waren eine gute Erreichbarkeit der Orte (Ausbau des Eisenbahnnetzes, →Bauten des Verkehrs), günstige klimatische Bedingungen und landschaftliche Schönheit. Der Aufenthalt diente, im Gegensatz zum Ausflugs- oder alpinen Tourismus, der Erholung ohne Anstrengung in der Natur. Die gesamte Familie (die Männer großteils nur am Wochenende) übersiedelte mit Dienstboten und Hausrat an den Urlaubsort. Je nach Vermögensverhältnissen wohnte man im Hotel, Gasthof oder in einem Bauernhaus zur Miete oder in der eigenen, das restliche Jahr über leerstehenden Villa. In sozialer Intimität blieb man unter sich; von geselligen Formen des Umgangs in der S. blieben die jüdischen Gäste weitgehend ausgeschlossen, sie verkehrten zumeist nur im jüdischen Milieu.

Die Folgen für Architektur und Ortsbild waren ein Ausbau der allgemeinen wie der touristischen Infrastruktur, u.a. durch Verschönerungsvereine, finanziell unterstützt von den Gästen, die sich in Kleidung und Architektur den Bräuchen anpassten. Baute man zunächst im Schweizerhausstil, setzt sich mit der Heimatschutzbewegung der sog. Heimatschutzstil durch, der sich an örtlichen Vorbildern orientierte und durch Verwendung lokaler Materialien und vernakulärer Motive gewachsene Strukturen vortäuschte. In Flächigkeit und Dekorationslosigkeit der Wände dem Vorbild anonymer Architektur folgend, verraten die oft imposanten Villenanlagen in ihrer Struktur und Einrichtung dennoch das Repräsentationsbedürfnis ihrer Bauherren. Der enge Bewegungskreis als Binnenkosmos der S. und ihre Ausrichtung auf den Blick spiegelte sich nun noch stärker in Bauelementen (Balkone, Ruhebänke, Pavillons), aber auch mittels einer durchdringenden Verbindung zwischen Wohnraum und — nach der englischen Landhauskonzeption gestaltetem — Freiraum durch großzügige Öffnungen bzw. Aufenthaltsbereiche (Loggien, Erker oder Terrassen).

Waren anfangs noch die Vorstädte Ort der S. (in den 1850er-Jahren etablierte sich Aigen als erste Salzburger Villenkolonie), ermöglichte die verbesserte Verkehrsinfrastrukur (ab 1873 Wolfgangseeschifffahrt, ab 1893 Salzkammergut Lokalbahn) die Erschließung des Salzkammerguts für die S. Der Salzburger Kaufmann, Handelskammerrat und Vorstand der Salzburger Liedertafel Ludwig (I.) Zeller (1814—1880), welcher eine Eisenwarenhandlung in der Judengasse führte, baute sich bereits 1862—64 nach eigenen Entwürfen in Ried am Wolfgangsee die Villa Frauenstein. 1882 siedelte sich der Vater des Bienenforscher Karl von Frisch, Anton Ritter von Frisch, in Brunnwinkel an, 1883 folgte der deutsche Chirurg Theodor von Billroth. Seine 1884 errichtete Villa (Entwurf von Leopold Theyer) wurde kultureller und gesellschaftlicher Treffpunkt (u. a. J. →Brahms, Johann Strauß).

Um die Jahrhundertwende beauftragten viele jüdische Bauherren bedeutende Architekten aus Prag, Wien und München. Den Beginn machte 1901 der Siebenbürgener Architekt und Maler Hermann Giesel, 1904 baute Albert Hans Pecha für Anna Blaschczik, die Schwester des Generaldirektors der Prager Eisenindustrie-Gesellschaft Wilhelm Kestranek, eine Villa um. 1905 errichtete der örtliche Baumeister Hans Brandl für den Prager Großindustriellen und Direktor der Poldi-Hütte Karl Nebrich eine Villa. Der Prager Jurist Ferdinand Tonder beauftragte 1906 den Mitbegründer der tschechischen Moderne und Otto-Wagner-Schüler Jan Kotěra mit seiner Villa am See. Im gleichen Jahr errichtete Otakar Novotný für den Direktor der Zuckerfabrikenversicherung Moriz Riemer eine Villa; zugehörig ist ein Bootshaus von Heinrich Fanta (1931) samt Holzboot H. v. →Hofmannsthals. 1908 folgt die für Wilhelm Kestranek (ein Geschäftspartner von Nebrich) vom Münchner Architekten Emanuel v. Seidl geplante Jugendstil-Villenanlage (im Nationalsozialismus enteignet und durch Hermann Göring genutzt, seit 1956 im Besitz des Vereins Rettet das Kind). Den riesigen Landsitz des Wiener Bankiers Max Feilchenfeld (seit 1949 Hotel Billroth) plante Albert. H. Pecha 1909. 1912 folgte die Neue König-Villa von Eugène und Gabriele Koenig, 1929 schloss der Promenaden-Pavillon (Abbruch 1980er) mit einem Papageno von Michael Powolný die Baureihe ab. Mit singulärer Stellung in der S. St. Gilgens: der 1911 durch Franz Schönthaler errichtete Ferienhort, welcher der Sommererholung für Wiener Schulkinder ohne finanzielle Mittel diente. Antijüdische Maßnahmen begannen in St. Gilgen früh, sie gingen von Sport- und Tourismusvereinen aus (1901 Verwehrung der Mitgliedschaft beim Union-Yacht-Club); 1938 und 1939 folgten Arisierungen. Einige der Villen sind heute verändert oder abgebrochen. Gut erhalten sind die Villen des Wiener Fabriksdirektors George Schinteliffe-Blakey (1906, 1924 Aufstockung für den Wiener Bankdirektor Otto Deutsch durch den Prager Architekten Viktor Kafka), die Villa Dr. Schaser (1912, Eduard Pölz) und Villa Wallace (1914, Hans Brandl).

Im 1898 durch die Lokalbahn erschlossenen Pinzgau entwickelte sich nur in Thumersbach am Zeller See eine Sommerfrische: Landhaus für den Wiener Landgerichtsrat Dr. von Brücke und dessen Frau Emilie Wittgenstein (1900, E. v. Seidl), nachdem bereits die ältere Schwester Clara Wittgenstein hier ein Landhaus gebaut hatte. Unken und Lofer konnten zwar Gäste aus verschiedenen Zentren der Habsburgermonarchie anziehen, bemerkenswerte Villen fehlen allerdings. Ähnliches gilt für das 1875 an das Bahnnetz angeschlossene Golling. Saalfelden verblieb zwar vorwiegend Touristenstation, L. →Ehrenberger baute hier aber 1904 ein Atelier und 1906 eine Jugendstilvilla nach eigenem Entwurf. Bad Gastein ist als traditioneller Kurort eigentlich nicht der S. zuzuordnen; Sigmund Freud verbrachte hier dennoch 1916–23 jeden Sommer in der Villa Dr. Wassing (1895–97, J. →Wessicken). Ausnahmen waren die Voralpen-Seen, denen die Einbettung ins Hochgebirge fehlte (Henndorfer Seehaus von Oskar Lainer). Für Künstler wie Gustav Klimt, der 1899 einige Wochen in Golling verbrachte, oder den Philosophen Ludwig Wittgenstein, war die S. keine Zeit der Untätigkeit, sondern der Prodiktivität. Wittgenstein arbeitete in der Villa seines Onkels, des Wiener Industriellen Paul Wittgenstein in Oberalm (errichtet 1874, abgebrochen 2015) am #Tractatus logico-philosophicus#, den er hier im Sommer 1918 vollendete.

Lit.:

  • J. Breuste: Jugendstil in Salzburg. Salzburg 2013.
  • Verein Ferienhort (Hg.): 100 Jahre Ferienhort am Wolfgangsee. Wien 2011.
  • E. A. Eichinger: St. Wolfgang lässt uns nicht mehr los: jüdische Sommerfrischegäste im Spannungsfeld von Idylle, Antisemitismus und Vertreibung. Dipl. München 2011.
  • H. Haas: Der Traum vom Dazugehören. Juden auf Sommerfrische. In: R. Kriechbaumer (Hg.): Der Geschmack der Vergänglichkeit. Jüdische Sommerfrische in Salzburg. Wien / Köln / Weimar 2002. S. 41–58.
  • H. Pinezits: Sommerfrische am Wolfgangsee. Villenarchitektur in Strobl zwischen 1880 und 1936. Dipl. Salzburg 1997.
  • H. Haas: Die Sommerfrische – eine verlorene touristische Kulturform. In: H. Haas/R. Hoffmann/K. Luger: Weltbühne und Naturkulisse. Zwei Jahrhunderte Salzburg-Tourismus. Salzburg 1994. S. 67–75.
  • M. Oberhammer: Sommervillen im Salzkammergut. Die spezifische Sommerfrischearchitektur des Salzkammergutes in der Zeit von 1830 bis 1918. Salzburg 1983.

J.B.